Abstract:
Irgend etwas ist mit den Mennoniten seit den ersten Jahren ihrer Ansiedlung in Russland im Jahr 1789 geschehen. Die mennonitische Gesellschaft und Kultur hat Verwandlungen erfahren. Nach sehr bescheidenen Anfangen bauten mennonitische Immigranten eine ganze Reihe bluhender Koloniegemeinschaften in den sudrussischen Steppen und seit 1850 auch im Wolgagebiet auf. Um das Jahr 1889 waren ihre Nachkommen vielfach bereits aus ihrer ursprunglichen Heimat weggezogen, um wohlhabende Siedlungen zu grunden - einige davon als neue Kolonien, andere als Privatunternehmen auf gepachtetem oder gekauftem Land, einige wenige auch auf grossen Landgutern, wo sie wie der Landadel lebten. An die Stelle der kleinen Handwerksbetriebe der ersten Siedler traten zum grossen Teil machtige Industriekonzerne, die sich in die nach der Emanzipation Russlands rasch entwickelnde industrielle Umwelt integrierten. Alle Mennoniten wurden Ende des neunzehnten Jahrhunderts in die Wirtschaft und Gesellschaft Russlands hineingezogen. Die landwirtschaftliche Produktion wurde zum grossten Teil vermarktet, und viele Mennoniten waren durch ihre Profite wohlhabend, reich und weltlich geworden. Mit dem raumlichen und materiellen Wachstum der verschiedenen Gemeinschaften wurde die mennonitische Gesellschaft immer unterschiedlicher. Wahrend 1889 die meisten Mennoniten noch als Bauern lebten, waren die Beschaftigungs- und Arbeitsmglichkeiten, die nun den jungen Mennoniten offenstanden, sehr viel breiter gefachert als in den Tagen ihrer Grossvater. Bildung spielte nun eine entscheidende Rolle nicht nur fr Fortdauer der Gemeinschaftswerte, die Menschen brauchten sie auch als notwendige Ausrstung, um sich auf das sich verandernde wirtschaftliche Umfeld einstellen zu konnen. Bildung war die Voraussetzung fur gesellschaftliche Mobilitat innerhalb und ausserhalb der mennonitischen Welt; sie forderte gesellschaftliche und intellektuelle Vielfalt und trug zur Entwicklung eines verfeinerten burgerlichen Geschmacks bei. Um das Jahr 1889 hatten viele Mennoniten sich muhelos in den breiteren Rahmen einer westeuropaischen Gesellschaft eingefgt. Diese materiellen und gesellschaftlichen Veranderungen waren jedoch nur die offensichtlicheren, ausseren Erscheinungen des Wandels im mennonitischen Leben, der in Russland seit dem Ende des achtzehnten Jahrhunderts stattgefunden hatte.